Literatur in der Mensa – Im Rausch der Stille

Auch wenn der Roman eine Kindheit in der Eifel beschreibe, gehe es „nicht um die süßlich-kitschige Darstellung der Welt“. Unsere Deutschlehrerin Angela Huber spricht im von Teelichtern beleuchteten Hauptraum der neuen Kreuzauer Schulmensa zu gut 50 Eltern, Schülern und Lehrern, die zu einer Lesung von Hubers Grundkurs Deutsch gekommen sind. Vielmehr bleibe im Roman „Unterm Rauschen“ die Heimat „dasjenige, was man sucht und niemals findet“, sagt sie mit ruhiger Stimme ins Publikum.

Hinter ihr vor der Glasfassade stehen vier Barhocker an entsprechend hohen Tischen. Mittags hatten an ihnen noch Schülerinnen und Schüler der „13plus“-Betreuung Lasagne aufgegabelt. Jetzt nehmen die ersten Leserinnen des Abends Platz. Sarah Stöber trägt ausgewählte Naturbeschreibungen aus „Unterm Rauschen“ von Norbert Scheuer vor. Sie muss nicht laut sprechen, denn das Publikum, zu dem sie ab und an hinüber blickt, ist völlig still. Es sieht einen Angler in seiner Wathose in einen Eifelbach steigen und verfolgt, wie er mit selbstgebundenen Fliegen fischt – ein Motiv, dass an mehreren Stellen in „Unterm Rauschen“ wiederkehrt.

Die technischen Abläufe beim Fliegenfischen waren das Thema von Andreas Niestroj (rechts) und Kompagnon.

Die technischen Abläufe beim Fliegenfischen waren das Thema von Andreas Niestroj (rechts) und Kompagnon.

Stöbers Nebenfrau liest nicht vor. Sie erklärt die ausgewählten Beschreibungen, weist darauf hin, dass vor allem der große Bruder und der Vater von Scheuers Protagonisten dem Fliegenfischen frönen. Der jüngere Bruder, der Ich-Erzähler Leo, bleibt aus dieser Männerbande ausgeschlossen. „Der Rauschen ist ein Wasserfall und das Geräusch – wenn man es nicht hört, fehlt etwas.“

Ein halbes Dutzend Gruppen aus je zwei bis vier Schülern trägt im Laufe des Abends Textstellen vor und analysiert sie – eine Ergebnispräsentation vor Publikum. Sie macht klar, dass Unterrichtsergebnisse kein Mittel zum Zweck der Notenoptimierung sind, sondern dass sie der umfassenden Bildung ihrer Erarbeiter dienen – und dass auch Eltern sich von der Lust des genauen Zuhörens einfangen lassen. Sie zeigen ihre Wertschätzung auch durch Hemden, Krawatten und Kleider in denen sie heute zum Gymnasium der Gemeinde Kreuzau kamen. So fällt es noch schwerer zu Glauben, dass kurz zuvor Schüler die Tische, an denen nun lauschende Eltern sitzen, mit nassen Schwämmen von Essensresten gereinigt haben.

Am Mühlhaus, in dem der Protagonist des Romans mit seiner Familie lebt, ziehen derweil Jahrzehnte Eifeler-Geschichte vorbei, in denen sich deutsche Geschichte spiegelt: Die Mauern der Eifel-Stauseen und der Westwall werden gebaut, ein Flüchtling aus russischer Kriegsgefangenschaft erreicht zu Fuß seine Heimat im Mittelgebirge. Amerikanische Armeeangehörige, die auf der nahegelegenen Airbase Bitburg mit ihren Kampfflugzeugen die Russen in Schach zu halten helfen, trinken in der Kneipe, die zur Mühle gehört.

Die Schülergruppen nehmen nacheinander am Bartisch Platz und erläutern aus leicht erhöhter Position immer neue Aspekte der Romanhandlung. Andreas Niestroj trägt eine weitere Textstelle über das Angeln vor, sein Partner erläutert, wie Fliegenfischer aus Fell, Vogelfedern und Kunststoffteilen täuschend echte Kopien einheimischer Insekten binden, um damit Forellen zu täuschen.

Neue Vorleserinnen - neue Gedanken zu "Unterm Rauschen"

Neue Vorleserinnen - neue Gedanken zu "Unterm Rauschen"

Draußen ist es schon längst vollständig dunkel; die Rücken der Vorleser spiegeln sich in der Scheibe der gläsernen Außenwand. Das Publikum ist sehr leise, kaum jemand wagt es zu flüstern. Als ein verspäteter Gast am Eingang eine Karte kauft, hört man überall in der Mensa, wie seine Münze in die Wechselgeldkasse fällt.

„Angeln ist List, Geduld, geheimnisvolle Grausamkeit,“ liest Niestroj. Dann treten neben das Angelmotiv Bilder von Leos extremster Fluss-Erfahrung: Der Protagonist bricht durch die Eisdecke und taucht ins kalte Wasser oberhalb des Rauschen. Hermann rettet seinen Bruder Leo und hält dazu splitternackt einen Zug an. Im Publikum glaubt man, das quietschen stählerner Radreifen auf Gleisen zu vernehmen.

Auch wenn Frederick Stappen von den Bauern vorliest, die in der Gaststätte am Fluss nach Schweiß stinkend darauf warten, ihr Getreide abladen zu können, meinen die Zuhörer, ihre Fürze von der Decke der Mensa wiederhallen zu hören.

Als nach einer kleinen Sektpause die fünfte Schülergruppe auftritt, hat das Publikum den Fluss und seine Anwohner deutlich vor Augen; das Gewässer mit seiner starken Mittel- und schwachen Randströmung, in der Angelfliegen an Bisamrattenlöchern vorbeitreiben. Und man hat einen Überblick über die familiären Verflechtung des Protagonisten gewonnen, der wahrscheinlich manch einem nicht so klar vor Augen stünde, selbst wenn Huber Kurs den gesamten Roman vorgetragen hätte – dafür sorgen die eingeschobenen Erklärungen. Das Konzept einer Passagen-Lesung mit Interpretation ist aufgegangen.

Und einmal mehr hat unsere neue Mensa ihre Wandlungsfähigkeit bewiesen: Wo sechs Stunden zuvor noch Schüler Gespräche über Lachs und Kartoffeln oder Salat mit Hühnchenstreifen hinweg geführt hatten, haben die Besucher der Lesung einen literarischen Angel-Ausflug in die Psyche eines Heranwachsenden in der Eifel erlebt.

22. Februar 2011 Autor:  Karsten Engelmann 0 Kommentare

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